INTERVIEW: »Die Taktik der Polizei wurde repressiver«
von: Claudia Wrobel, junge Welt, 04.05.2023
Angriff auf Versammlungsfreiheit
»Die Taktik der Polizei wurde repressiver«
Berlin: Revolutionäre 1.-Mai-Demo war aus Behördensicht »friedlich«. Kieze wurden abgeriegelt, Kessel vorbereitet. Ein Gespräch mit Robert Kirsch
Interview: Claudia Wrobel
Laut der Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik ist der 1. Mai in der Hauptstadt »friedlich« verlaufen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Das ist eine spannende Definition des Wortes »friedlich«. Wir haben eine politische, kraftvolle und kämpferische Demonstration organisiert – keinen Krawall oder was auch immer von der Springer-Presse oder den Gewerkschaften der Polizei herbeigeredet wurde. Aber das Auftreten der Polizei war alles andere als friedlich. Wenn es also »friedlich« ist, die Demonstrationsfreiheit einzuschränken; wenn es »friedlich« ist, dass Teilnehmer, um ihre Gesundheit fürchten müssen, weil sie in enge Gassen geführt werden, dann ist das einerseits, wie gesagt, eine spannende Definition des Wortes, und lässt andererseits nicht auf die kommenden Jahre hoffen.
Von Beginn an wurden von seiten der Polizei Engstellen provoziert, sei es durch Polizeiketten, strategisch geparkte Einsatzfahrzeuge oder Gitter. Sie waren gezwungen, die Demo früher zu beenden, weil Sie sonst in einen Bereich reingelaufen wären, der komplett hermetisch abgeriegelt war.
Alleine der Personenschlüssel von mehr als 6.000 Polizisten für erwartete 20.000 bis 25.000 Menschen war höher als bei jedem Hochrisikofußballspiel. Selbstverständlich gab es vor Ort Versuche, die Polizei davon zu überzeugen, dass dies kein Umgang mit demokratischen Grundrechten ist, aber man kann genauso gut mit einer Wand reden: Die Hamburger Gitter standen bereits Tage vorher einsatzbereit und auch die Seitenstraßen wurden nicht spontan mit Polizeiwagen voll gestellt. Am Ende ist es ein Abwägen mit der Gewissheit, dass die Polizei zum Schluss jeder 1.-Mai-Demonstration die Bilder provoziert, die sie braucht, und versucht, so viele Verhaftungen wie möglich durchzuführen. Falls das an dieser Engstelle passiert wäre, hätten wir nicht verantworten wollen, wäre es zu einer Massenpanik gekommen.
Was zu der Frage führt, ob die Strategie, Demonstrationen mit der Abschlusskundgebung quasi in den Kessel reinzuführen, generell überdacht werden sollte.
Wenn man sich für eine Abschlusskundgebung entscheidet, ist es fast egal, wo man sie abhalten möchte, die Polizei wird immer so viele Beamte rankarren, dass sie den Platz in einen Kessel verwandeln kann. Eine Demonstration mit einer Abschlusskundgebung, genau so, wie wir sie angemeldet hatten, ist unser verfassungsmäßiges Recht. Das ist durch die Polizei sicherzustellen und nicht zu gefährden.
Slowik hat auch gesagt, dass die Berliner Polizei sich entwickelt habe, weniger Angriffsfläche biete. Das klingt nach selbstkritischer Aufarbeitung der vergangenen Jahre. Inwiefern haben Sie die Polizeitaktik als verändert erlebt?
Die Polizei ist nicht mehr Schulter an Schulter mit der Demo mitgelaufen. Früher waren es drei Reihen Polizei direkt neben der Demo. Es sah daher auf den ersten Blick deeskalierender aus, allerdings war der komplette Bereich um die Demo so abgeriegelt, dass die Beamten ganze Kieze unter ihrer Kontrolle hatten. Also, ja, es ist eine Entwicklung der Polizeitaktik, die noch repressiver geworden ist, ohne dass permanente körperliche Gewalt notwendig war. Und trotzdem wurde auch diese gegen Demoteilnehmer eingesetzt, gerade im hinteren Bereich der Demo.
Wir haben Videos gesehen, nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Hamburg, Stuttgart und anderen Städten, in denen einzelne Menschen nach den 1.-Mai-Demos oder an deren Rand aus dem Nichts von der Polizei umgerannt werden, zu Boden gestoßen, liegengelassen. Sprechen Sie auch von diesen Situationen?
Wenn man aus dem ganzen Bundesgebiet Tausende, mehrheitlich Männer ankarrt und ihnen schon vorher Gewaltexzesse verspricht, dann möchten die auch auf ihre Kosten kommen. Außerdem muss auch der Einsatz gerechtfertigt werden: Wenn man mehr als 6.000 Beamte ranschafft, den Kiez hermetisch abriegelt und am Ende des Abends eine Handvoll Festnahmen vorzuweisen hat, dann muss sich der Berliner Senat fragen lassen, wo die Rechtfertigung dafür liegt. Das ist ein enormer Einsatz von Steuermitteln, die an anderen Stellen fehlen.